Wie gut sind Notausgangsschilder für Menschen mit Sehbeeinträchtigung erkennbar? Ein Testlauf von Wiener Forschern in der virtuellen Realität gibt Antworten: Die aktuellen Normen sind nicht ausreichend.
Die ersten Nintendo-Videospiele hatte Katharina Krösl schon als Vierjährige zur Hand. Darin unterschied sich Krösl – Jahrgang 1985 – kaum von anderen Heranwachsenden ihres Alters. Doch während die meisten den Controller irgendwann wieder weglegten, wurde aus Krösls Hobby eine Leidenschaft: Im Jahr 2013 sicherte sie sich als eine der ersten Nutzer eine Virtual-Reality-Brille (VR) der letzten Generation.
Denn Krösl blieb beruflich den virtuellen Welten verbunden: 2016 nahm die Spezialistin für Computergrafik an der TU Wien die Arbeit an ihrer Dissertation über optimale Beleuchtungskonzepte für Gebäude auf. Da untersuchte sie nicht nur, wie sich für Menschen mit Seheinschränkung gute Lichtlösungen finden lassen. Rasch war sie auch bei der Frage angelangt, wie gut leserlich für diese Zielgruppe eigentlich die Fluchtwegschilder – etwa in Altenheimen oder Schulen – sind.
Internationale Normen zur Sicherheitskennzeichnung, wie etwa die ISO 3864-1, legen zwar Distanzen und Winkel fest, aus denen Schilder erkennbar sein sollten. Doch einige Punkte halten einer praktischen Überprüfung nicht stand, legt Krösls Arbeit nahe. Der gravierendste: Laut ISO-Norm ist die Distanz um 40 Prozent zu verringern, wenn Personen mit Seheinschränkung im Raum sind. „Unserer Erfahrung nach ist diese Maßnahme aber schon bei leichter bis mittlerer Sehschwäche nicht mehr ausreichend“, sagt die Forscherin, die auch am VRVis – Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung in Wien, arbeitet.
Tester im virtuellen Rollstuhl
Dieser Befund überrascht nicht wirklich: Für belastbare Standards brauchte es Testreihen mit Dutzenden von Probanden, die an denselben Sehschwächen, etwa Grauem Star oder Makula-Degeneration, einer Erkrankung der Netzhaut, leiden. In der virtuellen Welt dagegen lassen sich Erkrankungen des Sehnervs simulieren, wie Krösls abgeschlossenes Projekt am VRVis demonstriert: 30 Testpersonen zwischen 23 und 42 Jahren – alle mit normaler oder mittels Sehbehelf korrigierter Sicht – mussten sich in einem virtuellen Gang deckennahen Notausgangsschildern nähern. Sie fanden in ihren VR-Brillen des Typs HTC Vive ein physikalisch korrekt ausgeleuchtetes dreidimensionales Modell des Flurs. Die Sehschwächen wurden grafisch durch schrittweises Weichzeichnen des Bildes simuliert.
Krösl entschied sich für das Szenario Altersheim, die Tester waren virtuell im Rollstuhl unterwegs – in der echten Welt reichten dazu Bürosessel. Mit einem Controller gab der Tester Gas. Der zweite war an der Rückenlehne festgemacht. „Er übertrug die Rotationsbewegung in die virtuelle Welt des Testers“, schildert die Projektleiterin.
Simulierte Sehschwäche
Der Pfeil zum Notausgang änderte seine Richtung nach dem Zufallsprinzip und musste richtig erkannt werden. Nach mehrtägigem Testen waren die maximalen Entfernungen, bis zu denen dies einwandfrei gelingt, erfasst. „Unser Simulationstool hat sich als verlässliche Entscheidungshilfe für das Anbringen von Rettungswegschildern erwiesen“, resümiert Krösl.
Das Tool könne nun im Architekturbereich bei der barrierefreien Planung zum Einsatz kommen – und könnte nach Folgetests auch „die Normung beeinflussen“, hofft sie.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2018) Online-Artikel